Samstag, 3. Oktober 2015

Premiere, wenn ich es recht besehe: die erste hochformatige Postkarte!

Und gleich noch eine Premiere hinterher. Denn diese Postkarte ist nicht nur unfrankiert, ungestempelt und undatiert, es fehlt auch jeder Text. Immerhin steht ein Name drauf. Es handelt sich um eine Postkarte, die ich an frühere Nachbarn senden wollte - ein sehr liebenswürdiges Paar, das sich in einem wahrhaft transatlantischen Leben eingerichtet hat. Leider haben wir - meine Frau und ich - es immer noch nicht geschafft, sie in ihrem europäischen Domizil zu besuchen. Doch der Tag soll und wird kommen. Aus Gründen, die ich nicht mehr erinnere, schickte ich die Karte nicht ab und legte sie in den Postkartenkartons.

Das Bild auf der Karte zeigt Häuser aus dem 14. Jahrhundert im sogenannten Hexenviertel in der sehenswürdigen Kleinstadt Landsberg am Lech in Oberbayern an der Grenze zu Schwaben. Das Viertel besteht aus mehr oder weniger gerade mal einer Strasse, die zwischen zwei mittelalterlichen Stadttoren einem steilen Abhang entlang verläuft. Ich las, daß das Viertel den Name erst im 19. Jahrhundert erhielt als sich lokale Künstler ob der pittoresken Motive dort niederließen. Wie so häufig, nehmen wir Gegenwartsmenschen auch in diesem Fall das "Mittelalter" durch die (neo-) romantische Brille des 19. Jahrhunderts wahr. Denn im Mittelalter waren hier die Gerber ansässig, welche die Holzbalkone zum Aufhängen und Trocknen ihrer Felle benutzten. Da kein vernünftiger Mensch jemals neben einem Gerber (Details hier) wohnen mochte, liegt das Viertel außerhalb des alten Stadtkerns. Die (originalen) Holzbalkone sind heute die eigentliche Sehenswürdigkeit des Viertels. Doch können sie gefährlich sein. Ich las davon, daß einer herunterbrach als eine Frau eine Zigarette im Freien zu rauchen gedachte.

Landsberg am Lech ist gleich für mehrere Dinge berühmt. Zuerst ist natürlich das Gefängnis zu nennen, das im 20./21. Jahrhundert wenigstens zwei prominente Figuren aus der Welt der Politik und des Sports beherbergte. Wie immer, keine Namen. Dann wurde 1945 in einer früheren Wehrmachtskaserne eines der größten Lager für Displaced Persons eingerichtet. Bis zu 7.000 jüdische Holocaust-Überlebende gleichzeitig, insgesamt über 30.000 (in einem Ort mit damals unter 20.000 Einwohnern), lebten hier temporär und warteten auf ihre ersehnte Ausreise nach Israel oder Nordamerika. Außerdem war es Hinrichtungsstätte für einige der übelsten NS-Verbrecher. Und schließlich war die Stadt Geburtsort meiner Frau. Aufgrund verschlungener Lebenspfade wohnten wir hier für etwa ein Jahr nach unserer Rückkehr aus dem Ausland. So schön das Städtchen ist, es war nicht das beste meiner Lebensjahre. Aber das ist Geschichte und interessiert uns hier nicht.

Oder etwa doch? Was ich dort erfuhr, möchte ich als Ambivalenz des Romantischen bezeichnen. Ich bin ein großer Bewunderer der Deutschen Romantik. Die Ironie, der Witz; der kritische Intellekt, die scharfen Zeitdiagnosen; alles nahezu unerreicht in der deutschen Literaturgeschichte. Doch dann wurden diese Männer (und einige mehr als nur erwähnenswerte Frauen) alt, fett und weinselig, konvertierten zum Katholizismus oder machten ihren Frieden mit dem autoritären Staat. Sie stellten die richtigen Diagnosen und zogen die falschen Schlüsse. Heinrich Heine, der romantischste unter den Romantikern mit dem kleinen, aber (lebens-)entscheidenden Makel konvertierter Jude gewesen zu sein, hat das schon sehr richtig erkannt und erbarmungslos unterhaltsam beschrieben.

Aber ja doch, ich bin noch immer ein großer Bewunderer dieses kleinen romantischen Städtchens und ich beneide dessen Bewohner um die Unerschütterbarkeit ihrer Leben. Doch habe ich gelernt, was es bedeutet, diese Leben als Fremder zu kreuzen - und dies, obwohl ich weder aufgrund meiner Herkunft, Hautfarbe, religiöser oder sexueller Orientierung als augenscheinlich "fremd" daher komme. Es war eine geradezu ekelhafte Erfahrung. Und es war alles andere als ein Zufall, daß unsere besten Freunde eine Familie mit algerischem Hintergrund war, die sich unter schwierigen Bedingungen dort eine Existenz aufzubauen versuchte.

Auf dieser Postkarte ist übrigens das Haus zu sehen, in dem wir für etwa ein Jahr lang wohnten. Es ist das dritte Haus von links, gleich neben dem südeuropäisch dekorierten Balkon. Nicht zu sehen sind allerdings, die niedrigsten Decken unter denen ich jemals mein Haupt zu strecken versuchte.

[M.F. 2011]





Freitag, 2. Oktober 2015

Eine weitere undatierte, unfrankierte und ungestempelte Postkarte. Dies aber aus gutem Grund, denn ihr war ein Verrechnungsscheck beigelegt. Eine Zeitlang, zwischen 2000 und 2003, habe ich neben meinem Job an einer Universität für eine US-amerikanische Study Abroad Agentur Kurse in deutscher Geschichte unterrichtet, den Forderungen nach Flexibilisierung also vollauf Genüge getan. Die akademische Leiterin des Berlin-Programms war eine sehr liebenswürdige Person und ich freue mich, beim Nachdenken über diese Postkarte erfahren zu haben, dass sie weiterhin in diesem Feld arbeitet und es ihr offensichtlich gut geht.

Ich unterrichtete kleine Klassen von acht bis zwölf Studierenden in deutscher Geschichte mit dem Schwerpunkt auf Nationalismus, Staatsbürgerschaft und nationaler Zugehörigkeit. Wir trafen uns fünf bis sechs Mal, die Studierenden schrieben ihre Essays und abschließend trafen wir uns nochmals, um die Essays zu besprechen. Einmal war der Kurs auf einen Tag Mitte September 2001 terminiert. Ich wollte absagen, doch die Studierenden (vielleicht aber auch die akademische Leiterin des Programms) wollten, daß der Kurs stattfand. Wir trafen uns im 18. Stock meines Bürogebäudes (eine in diesem Moment vielleicht doch unglückliche Entscheidung, den Kurs in einem Hochhaus abzuhalten). Ich brachte nationale und internationale Zeitungen mit, auch um meine Solidarität zu bekunden und weil ich dachte, daß darüber sprechen eine gute Sache wäre. Ich werde nie vergessen, wie zwei elendig lange Stunden ich weinenden Halberwachsenen gegemübersaß und einfach nicht recht wußte, was zu tun wäre.

9/11, wie auch 11/9, gehört zu jenen Tagen, von denen ich noch genau weiß, was ich morgens bis abends gemacht habe. An beiden Tagen saß ich vorwiegend im Auto. An diesem sonnigen Septembertag war ich mit meiner damaligen Freundin, heute Frau, auf der Rückreise von einem Urlaub auf der Insel Elba. Kurz hinter München - Autobahnraststätte Fürholzen - machten wir eine Pause. Ich ging auf's Klo und sah eine kleine Menschenansammlung vor einem kleinen Fernseher sich zusammenrotten. Ich ging zurück zum Auto, dessen Motor inzwischen zusammengebrochen war - und sagte zu meiner Freundin, dass irgendwo ein Wolkenkratzer brennen würde. Als wir später durch die Radioberichterstattung genauere Informationen erhielten sagte ich prophetisch: "Das bedeutet Krieg." Dass es ein so langer, ein so blutiger Krieg werden würde, den wir kaum als Krieg bezeichnen, das hatte allerdings auch ich nicht auf der Rechnung. Zurück zu gegenwärtigen Jahrestagen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich am 3. Oktober 1990 gemacht und gedacht. Der Tag bedeutet mir nichts, aber ich spüre die Konsequenzen...

Zurück zur Karte. Es handelt sich um eine touristische Karte aus Tombstone. Tombstone ist eine historische Westernstadt in Arizona und reiht sich ein in die Liste, berühmter kurioser Städtenamen, wie Fucking in Österreich oder Swastika in Ontario. Es gibt dort tägliche Zurschaustellungen des berühmten Schußwechsels, an dem die Earp Brüder und Doc Holliday beteiligt waren. Die Opfer liegen auf dem auf der Karte benannten Friedhof begraben. Interessant, aber wenig überraschend ist, wer auf den kreuzen nicht namentlich genannt wird: Chinesen und Indianer. Und wer es ganz kurios möchte, der richte sein Augenmerk bitte auf das Kreuz für den unglücklichen George Johnson unten links. So war der Wilde Westen.

Auf der Rückseite schrieb die akademische Leiterin des Programms eine Aufstellung der Kosten und des Honorars, die mir per Verrechnungsscheck beglichen wurden. Eine hübsche Summe, die mir damals sicherlich sehr willkommen war.

P.S.: Sollte der Schriftzug auf dem Kreuz unten links nicht lesbar sein: George Johnson. Hanged by mistake... Sachen gibt's.

[C.S. ca. 2002]





Donnerstag, 1. Oktober 2015

Früher nannten das manche Gottesurteil. Ich sage, welch' schöner Zufall. Verabrede ich mich doch kürzlich mit einem Freund von der Sorte, von der man maximal zwei, drei hat, zum Telefonieren, ziehe ich später eine Postkarte aus dem Karton und führe ich am Abend ein schönes Telefonat. Und natürlich hatte ich eine Karte gezogen, die mir ebendieser vor vierundzwanzig Jhren zugeschickt hatte.

Die Karte ist unfrankiert und undatiert, und doch kann ich sie exakt auf Mitte Juli 1991 datieren, weil sie sich auf ein persönliches Lebensereignis bezieht, das mich daran erinnert, wie jung ich damals war und wie alt ich doch geworden bin.

Zum Titel ist wenig zu sagen. Er ist rückseitig in sechs Sprachen übersetzt, darunter auch in jene Sprache, in der er gesagt wurde. Denn in den Mund gelegt wird die Lebensweisheit "Der Ball ist rund ein Spiel dauert 90 Minuten" natürlich dem Reichs- und Bundestrainer Sepp Herberger. Manchmal liegt die Weisheit in der Schlichtheit, ein andermal jedoch kippt diese wiederum in den Blödsinn. Ich bin wohlwollend und entscheide mich für die erste Variante.

Dieser Freund hat nun allerdings kaum eine Affinität zum dem Spiel, auf den sich dieser Satz bezieht. Aus diesem Grund muß die Auswahl wohl mit den Besonderheiten des Adressaten zu tun haben. Als fünfter von sechs Enkeln war ich der einzige, der allsamstäglich um 15.30 Uhr knapp zwei Stunden in Raum mit dem Großvater verbringen durfte, um der Radio-Liveberichterstattung zu folgen. Ich quatschte nicht dazwischen und ich wußte zu welchen Teams ich halten mußte. Tagtäglich spielte ich, wann immer es ging, Fußball - zur Not mit mir und gegen mich selbst oder sogar gegen meine Schwester (die ich natürlich schwindlig spielte). Eine große Karriere war mir nicht vergönnt. Genau genommen war es sogar eine ziemlich peinliche Karriere, aus der ich zwei bezeichnende Ereignisse erzählen möchte. Wir waren eine gute Jungenmannschaft in der C-Jugend und gewannen am Fließand. In einem Spiel verprügelten wir den Gegner mit 19:0. Ich erzielte als einziger kein Tor. Daß ich in der Defensive spielte, taugt nicht als Erklärung, da sogar unserer Towart zwei Tore erzielte. Dann war da noch zwei Jahre später das größte Spiel, das wir mit dieser Jugendmannschaft hatten, ein Halbfinale um die Regionalmeisterschaft, also dort, wo dann langsam schon Vereine auftauchen, deren Namen man gemeinhin kennt. Wir verloren nur knapp mit 1:2. Ich aber erhielt vor den Augen meines Vaters, es war das einzige Mal, daß er mir beim Kicken zuschaute, eine rote Karte für etwas, was wohl ein rutales Foul von hinten gewesen sein muß. Also wechselte ich die Seiten und wurde für etwa zehn Jahre "Fan".

Ich lese noch immer den Sportteil der Tageszeitungen und schaue auch ab und an ein Fußballspiel im Fernsehen an. Doch eigentlich interessiert es mich nicht mehr, ist es nicht mehr mein Spiel. Vielleicht bin ich erwachsen und langweilig geworden. Alkohol, Frauen und Zigaretten erledigten den Rest. Und doch bin ich immer wieder geneigt, meine Spielerkarriere wiederaufzunehmen. Ich denke dann an eine vernünftige Ü-40-Mannschaft (ich hasse es zu verlieren, doch noch mehr hasse ich, jene, die es nicht schert, wenn sie verlieren), doch muß mich beeilen, sonst werde ich einer noch höheren Altersklasse antreten müssen.

[R.W. 1991]