Und wieder Berge. Diese Postkate erreichte mich im Dezember 1990. Das Foto allerdings hätte auch zwanzig oder einhundert Jahre früher aufgenommen worden sein, je nachdem ob der Betrachter das Auto oder die Eisenbahn in den Blick nimmt (und ignoriert, dass es sich um ein Farbfoto handelt). Die Postkarte zeigt eine Aufnahme des Örtchens Fischen im Allgäu mit (vor-)alpentypischem Hintergrund.

Der Absender war ein früherer Mitbewohner, Reisebegleiter und ist noch immer ein großartiger Freund. Komischerweise habe ich unter all den vielen Postkarten, die von ihm erhalten habe, gerade diese als erste gezogen, als er der wohl reisefreudigste Mensch ist, den ich persönlich kenne. Außerdem verdiente er eine Zeitlang eine Art Lebensunterhalt durch das Schreiben von "alternativen Reiseführern", wie es damals hieß. Hoffentlich tue ich ihm kein Unrecht, aber ich glaube mich zu erinnern, dass er einen Reiseführer schrieb, ohne den Ort besucht zu haben - und dies in Zeiten vor dem Internet. Ich kann nicht viel über unsere Freundschaft sagen ohne gleich einen Roman zu schreiben. Dieser Freund und seine Karten werden uns jedoch sicherlich noch öfter begegnen. Also richte ich das Augenmerk auf etwas anderes.

Auf der Karte steht "Komme bald". Im Text findet sich keinerlei Bezug dazu. Überhaupt findet sich im Text außer einer Kaskade (unwillkürlich) zusammengesetzter Hauptwörter, der Schreiber ist eben auch ein unorthodoxer Sprachspieler vor dem Herrn, nur ein Verweis, der für einen Außenstehenden Sinn machen könnte: die Heini-Klopfer-Schanze im nahegelegenen Oberstdorf, die wohl besucht worden war. Was mich nun nicht überraschen täte. Das klingt simpel und ist es vielleicht auch.

Ein analytischer Geist und Meister der Quellenkunde könnte nun Text & Karte in ihren spezifischen Entstehungszusammenhängen untersuchen und methodologisch sauber die Intentionen des Autors ermitteln. Das wäre sicher hilfreich. Doch wie verhält es sich mit meiner Lesart damals und heute und verhalten sich die beiden zueinander? Habe ich die Karte positivistisch als Ankündigung rascher Heimkehr gelesen? Oder verstand ich sie als eine ironische Gegenüberstellung der abgebildeten Transportmittel und der Mitteilung über schnelle Heimwärtsbewegung? Oder zielte die Karte auf eine sexuelle Anspielung? Drei Lesarten (von vielen denkbaren), allesamt scheinen sie mir nicht nur möglich, sondern plausibel. Und schließlich wiederum, was bedeutet es, wenn mir gleich drei Lesarten plausibel scheinen?

Ich weiß es nicht. Ich habe eine Idee. Aber die verrate ich nicht.

[T.K. 1990]