Premiere, wenn ich es recht besehe: die erste hochformatige Postkarte!
Und gleich noch eine Premiere hinterher. Denn diese Postkarte ist nicht nur unfrankiert, ungestempelt und undatiert, es fehlt auch jeder Text. Immerhin steht ein Name drauf. Es handelt sich um eine Postkarte, die ich an frühere Nachbarn senden wollte - ein sehr liebenswürdiges Paar, das sich in einem wahrhaft transatlantischen Leben eingerichtet hat. Leider haben wir - meine Frau und ich - es immer noch nicht geschafft, sie in ihrem europäischen Domizil zu besuchen. Doch der Tag soll und wird kommen. Aus Gründen, die ich nicht mehr erinnere, schickte ich die Karte nicht ab und legte sie in den Postkartenkartons.
Das Bild auf der Karte zeigt Häuser aus dem 14. Jahrhundert im sogenannten Hexenviertel in der sehenswürdigen Kleinstadt Landsberg am Lech in Oberbayern an der Grenze zu Schwaben. Das Viertel besteht aus mehr oder weniger gerade mal einer Strasse, die zwischen zwei mittelalterlichen Stadttoren einem steilen Abhang entlang verläuft. Ich las, daß das Viertel den Name erst im 19. Jahrhundert erhielt als sich lokale Künstler ob der pittoresken Motive dort niederließen. Wie so häufig, nehmen wir Gegenwartsmenschen auch in diesem Fall das "Mittelalter" durch die (neo-) romantische Brille des 19. Jahrhunderts wahr. Denn im Mittelalter waren hier die Gerber ansässig, welche die Holzbalkone zum Aufhängen und Trocknen ihrer Felle benutzten. Da kein vernünftiger Mensch jemals neben einem Gerber (Details hier) wohnen mochte, liegt das Viertel außerhalb des alten Stadtkerns. Die (originalen) Holzbalkone sind heute die eigentliche Sehenswürdigkeit des Viertels. Doch können sie gefährlich sein. Ich las davon, daß einer herunterbrach als eine Frau eine Zigarette im Freien zu rauchen gedachte.
Landsberg am Lech ist gleich für mehrere Dinge berühmt. Zuerst ist natürlich das Gefängnis zu nennen, das im 20./21. Jahrhundert wenigstens zwei prominente Figuren aus der Welt der Politik und des Sports beherbergte. Wie immer, keine Namen. Dann wurde 1945 in einer früheren Wehrmachtskaserne eines der größten Lager für Displaced Persons eingerichtet. Bis zu 7.000 jüdische Holocaust-Überlebende gleichzeitig, insgesamt über 30.000 (in einem Ort mit damals unter 20.000 Einwohnern), lebten hier temporär und warteten auf ihre ersehnte Ausreise nach Israel oder Nordamerika. Außerdem war es Hinrichtungsstätte für einige der übelsten NS-Verbrecher. Und schließlich war die Stadt Geburtsort meiner Frau. Aufgrund verschlungener Lebenspfade wohnten wir hier für etwa ein Jahr nach unserer Rückkehr aus dem Ausland. So schön das Städtchen ist, es war nicht das beste meiner Lebensjahre. Aber das ist Geschichte und interessiert uns hier nicht.
Oder etwa doch? Was ich dort erfuhr, möchte ich als Ambivalenz des Romantischen bezeichnen. Ich bin ein großer Bewunderer der Deutschen Romantik. Die Ironie, der Witz; der kritische Intellekt, die scharfen Zeitdiagnosen; alles nahezu unerreicht in der deutschen Literaturgeschichte. Doch dann wurden diese Männer (und einige mehr als nur erwähnenswerte Frauen) alt, fett und weinselig, konvertierten zum Katholizismus oder machten ihren Frieden mit dem autoritären Staat. Sie stellten die richtigen Diagnosen und zogen die falschen Schlüsse. Heinrich Heine, der romantischste unter den Romantikern mit dem kleinen, aber (lebens-)entscheidenden Makel konvertierter Jude gewesen zu sein, hat das schon sehr richtig erkannt und erbarmungslos unterhaltsam beschrieben.
Aber ja doch, ich bin noch immer ein großer Bewunderer dieses kleinen romantischen Städtchens und ich beneide dessen Bewohner um die Unerschütterbarkeit ihrer Leben. Doch habe ich gelernt, was es bedeutet, diese Leben als Fremder zu kreuzen - und dies, obwohl ich weder aufgrund meiner Herkunft, Hautfarbe, religiöser oder sexueller Orientierung als augenscheinlich "fremd" daher komme. Es war eine geradezu ekelhafte Erfahrung. Und es war alles andere als ein Zufall, daß unsere besten Freunde eine Familie mit algerischem Hintergrund war, die sich unter schwierigen Bedingungen dort eine Existenz aufzubauen versuchte.
Auf dieser Postkarte ist übrigens das Haus zu sehen, in dem wir für etwa ein Jahr lang wohnten. Es ist das dritte Haus von links, gleich neben dem südeuropäisch dekorierten Balkon. Nicht zu sehen sind allerdings, die niedrigsten Decken unter denen ich jemals mein Haupt zu strecken versuchte.
[M.F. 2011]