Montag, 28. September 2015

Diese Postkarte ist insofern sehr interessant als ich zunächst keinen blassen Schimmer hatte, wer die Absenderin(nen) gewesen sein könnte(n). Das Foto, auf der Rückseite etwas verallgemeinernd als "Schweiz" umschrieben, zeigt, sofern ich mich nicht gänzlich irre, ein Panorama der Mönch-Eiger-Jungfrau-Region im Berner Oberland. Dort, nur drei Autostunden südlich meines Elternhauses, war ich seit meinem fünften Lebensjahr wenigstens zweimal im Jahr zum Skifahren - vorzugsweise in Wengen.

Die Karte erreichte mich jedoch etwas später, nämlich 1992 als ich im Ausland studierte und im südöstlichsten Zipfel der kanadischen Provinz Ontario wohnte. Sie wurde in Deutschland abgestempelt, genauer im Postamt des kleinen Schwarzwalddorfes Hinterzarten. Dort hatte ich während meines Studiums an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg als Nachtportier in einem Luxushotel gearbeitet. Eine gute Arbeit: hervorragend bezahlt, kaum aufregende Tätigkeit außer betrunkene Damen und Herren morgens um vier diskret von der Hausbar aufs Zimmer zu begleiten, freier Zugang zu allen Kühlräumen und Speisekammern des Hotels sowie die internationale Presse frei Haus. Außerdem verfügte das Hotel bereits über Computer, die ich nachts zum Niederschreiben von Hausarbeiten nutzte.

Zwei Begebenheiten aus meiner Hotelzeit sind mir noch sehr gegenwärtig:

Da ist erstens der Zweite Golfkrieg - der im Englischen interessanterweise als Premierenkrieg im Golf bezeichnet wird, da dort der Krieg zwischen dem Irak und Iran während der 1980er nicht in die Zählung aufgenommen ist - und insbesondere die damals atemberaubenden Livereportagen von Peter Arnett auf CNN. Arnett war einer der wenigen "westlichen" Reporter, die sich während der Bombardierung Bagdads in der Stadt aufhielten und berichtete vom Dach eines Hotels mit Blick auf die Leuchtfeuer über und in der Stadt. Ich bin mir nicht sicher, ob dies die erste Fernseh-Liveübertragung eines Krieges war, doch hat sich mir hier zum ersten Mal die moderne Variante der Parallelität von medialer Kriegssimulation und realem Kriegsgeschehen (von dem wir Fernsehzuschauer natürlich recht wenig mitbekamen) gezeigt. Ich schaute diesen Krieg bzw. dessen mediale Aufbereitung bei einer Flasche Rotwein in einer "Senior Suite" des Hotels, während die Hoteltüren (wie immer über Nacht) verschlossen waren und der Piepser im Ruhezustand blieb.

Beim zweiten Ereignis handelte es sich um einen handfesten versuchten Raubüberfall. Eine der Überwachungskameras funkte ein Bild auf meinen Monitor, dem zu entnehmen war, dass ein maskierter Täter versuchte, mit Ziegelsteinen das Schufenster des hauseigenen Juweliers einzuschlagen. Als ich mir überlegte, was zu tun sei, wurde mir recht schnell klar, dass Zurückhaltung hier Recht am Platze war. Also verriegelte ich sämtliche Zugänge zum Hotel, rief bei der Polizei an und wartete, den armen Tropf - die Schaufensterscheiben waren aus Panzerglas, die ausgestellten Uhren und Schmuckstücke ohnehin Attrappen, beobachtend. Der Mann wurde - natürlich - von der Polzei aufgeschnappt - angetrunken auf einem klapprigen Fahrrad mitternächtlich durchs Dorf fahrend. Als ich einige Zeit später den Täter identifizieren sollte, erkannte ich ihn sofort an der Körperhaltung, ließ die Polzeibeamten allerdings wissen, dass ich mir nicht sicher genug sei, um eine Aussage machen zu können. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass es sich bei dem "Täter" um den Dorfdeppen des Nachbarortes handelte.

Wenn ich mir diese Karte heute anschaue, denke ich gerne an die guten Nächte (und seltener auch Tage) zurück, die ich in diesem Hotel verbracht habe. An Gesichter hingegen kann ich mich nicht erinnern. Und doch finde ich es rückblickend geradezu berührend, dass diese beiden ehemaligen Kolleginnen an die studentische Aushilfe dachten. Ich hoffe, die beiden leben gute Leben.

[M.H. 1992]